Rotbuch · Verlagsgeschichte

von Dr. Sabine Groenewold

Der Rotbuch Verlag gründete sich 1973 in Berlin, als Abspaltung der Mitarbeiter des Verlags Klaus Wagenbach. Zu den Gründern gehörten die Schriftsteller und Lektoren Anne Duden, F.C. Delius und Ingrid Karsunke. Auch das „Kursbuch“, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, zog mit (bis 1990).

Die Mitglieder des neuen Verlags machten mit der sogenannten Politik der Demokratisierung der Betriebe ernst, bei der die Beschäftigten identisch mit den Eigentümern sein sollten, und entschieden gemeinschaftlich über Organisation, Finanzen und Programm, Auswahl der Autoren, Vertrieb und Ladenpreis. Rotbuch war der einzige je kollektiv geführte Verlag in Deutschland, und das zwanzig Jahre lang, bis 1993, als die Eigentümer ihre Anteile der Europäischen Verlagsanstalt verkauften.

Das Programm war zugleich anspruchsvoll und populär, mutig und frech, witzig und revolutionär. Als reiner Taschenbuch Verlag, dessen roter Querbalken auf den Umschlägen ein „Markenzeichen“ wurde, lang bevor von Marken im Buchhandel die Rede war, sollten die Bücher „allen“ zugänglich sein: Rotbuch wurde der Verlag in Deutschland, der der politischen Auseinandersetzung nach der Studentenbewegung von 1968 ein Forum gab, in der Belletristik mit bis dahin nie gehörten Stimmen von verstörender Kraft. Zum ersten Mal kamen Autoren aus dem Osten zu Wort, wie Herta Müller, Richard Wagner oder Carmen Francesca Banciu aus Rumänien, Libuse Monikvá aus der ?SSR, György Dalos und Agota Kristof aus Ungarn, Emine Sevgi Özdamar und Aras Ören aus der Türkei. Auch die „Dissidenten“ der DDR wie Thomas Brasch, Sascha Anderson oder Kurt Bartsch erschienen hier erstmals. 1972 erschütterte F.C. Delius mit seiner satirischen Festschrift „Unsere Siemens-Welt“ einen ganzen Konzern und 1974 veröffentlichte der Dramatiker Heiner Müller bei Rotbuch seine Werkausgabe, mit der er weltweit Anerkennung und Ruhm erlangte. Dazu kamen Anne Duden mit „Übergang“ und Autoren wie Yaak Karsunke, Peter O. Chotjewitz, Peter Schneider, dessen Erzählung „Lenz“, 1973 erschienen, bereits zwei Jahre später 64.000 mal verkauft war, Peter Paul Zahl, Helga M. Novak, Birgit Vanderbeke und Christian Geisler.

Rotbuch gelang es, auch dem politischen Diskurs Witz und Würze zu geben, erfand den „Roten Kalender gegen den grauen Alltag“ (als Nachfolger der „Kleinen Rotbuch Almanachs“) und ließ, in der kongenialen Übertragung von Peter O. Chotjewitz, Dario Fo, den Literaturnobelpreisträger von 1997, in Deutschland Triumphe feiern. Mit dem legendären Zeichner Gerhard Seyfried machte Rotbuch den deutschen Comic weltbekannt, allen voran mit „Flucht aus Berlin“.

Als 1987 die Reihe „Rotbuch Krimi“ ins Leben gerufen wurde, gab es einen Sturm der Entrüstung, von „Verwässerung“ und „intellektuellem Hedonismus der Linken“ war die Rede – aber auch auf diesem Gebiet bewies Rotbuch in Gestalt der Herausgeberin (und Heiner Müller-Lektorin) Gabriele Dietze Spürsinn, Sinn für Qualität und für spannende Lektüre. Sie gab der Reihe ein unverkennbares inhaltliches Profil, unterstützt von einer avantgardistischen Cover-Gestaltung, an der Künstler wie Hendrik Dorgarthen und Henning Wagenbreth Anteil hatten. Dietze entdeckte Autoren wie die Amerikaner Tony Fennelly, William Marschall, Grant Michaels und Jerome Charyn und den Franzosen Jean Vaurtin und machte mit Pieke Biermann, Lars Becker, später mit Thea Dorn, Jörg Juretzka, Roger M. Fiedler und Cornelia Arnhold den deutschen Krimi konkurrenzfähig. In den 15 Jahren ihrer Leitung erhielt Rotbuch acht mal den Deutschen Krimipreis.

Im Sachbuch ging es um Fragestellungen, die „bei aller Vergänglichkeit von Belang und Dauer sind“, wie Martin Bauer und Otto Kallscheuer es im Almanach zum 20. Geburtstags des Verlags formulierten: „Ihnen nachzugehen, soweit sie Gegenwart als den Augenblick entdecken, der über zukünftige Gegenwarten entscheidet, war und bleibt unsere Ambition. Das mach den Ehrgeiz eines Verlages aus, der sich Zeitgenossinnen und –genossen, die Geschmack an Geistesgegenwart haben, als Publikum wünscht.“

Ein Jahr später, 1988, erbrachten die „Rotbuch Rationen“, herausgegeben von Otto Kallscheuer, den Beweis, daß der Verlag dem Anspruch, einer der fortschrittlichsten politischen Verlage in Deutschland zu sein, gerecht geworden war. Unter dem Motto „Rationen versorgen Zeitgenossen mit Geistesgegenwart“ stellte die Reihe Querdenker wie Michael Walzer, Michael Ignatieff oder Benjamin Barber zur Diskussion und setzte in Deutschland die Kommunitarismus-Debatte in Gang. Von den inzwischen über zwanzig Bänden sind mehr als die Hälfte auf Bestenlisten vertreten. Die Anthologie, die die Herausgeber Martin Bauer und Otto Kallscheuer 1993 zum 20. Geburtstag des Verlags unter dem Titel „Sie bewegt sich doch. Ein Weltbilder-Lesebuch“ zusammenstellten, versammelt alles, was damals bei Rotbuch und in der intellektuellen Öffentlichkeit Rang und Namen hatte: von Hannah Arendt, Umberto Bobbio, Dan Diner, Peter Glotz über Ulrich Beck, André Gorz, Matthias Horx, Ingrid Karsunke, Robert Jungk, Thomas Schmidt, Judith N. Shklar und Michael Sontheimer zu Alain Tourrain, Ernst Tugendhat und Terry Winogard.

1993 übertrugen die damaligen Geschäftsführer ihre Anteile der Europäischen Verlagsanstalt, seit 1989 unter der Leitung der Verlegerin Sabine Groenewold, und Rotbuch zog nach Hamburg. Zweck des Kaufs war, durch eine gemeinsame Plattform beiden Verlagen eine stärkere Position zu geben. An der Zielrichtung des Rotbuch-Programms änderte sich also nichts.

Im Jahr 2001 wurden der Rotbuch Verlag, die Europäische Verlagsanstalt und der ein Jahr zuvor vom Carlsen Verlag/Hamburg übernommene Verlag Die Hanse unter der Dachmarke Sabine Groenewold Verlage zusammengeführt. Seitdem ist Rotbuch ein reiner Belletristikverlag, mit Schwerpunkten einerseits auf der jungen Literatur Deutschlands und der europäischen Randländer (wie Irland und Polen) und auf Krimis anderseits. Immer noch gilt: „Rotbuch hat die schönsten Morde“. Der Bereich “Aktuelles Sachbuch“ und die Reihe „wissen 3000“ wurden 2002 der Europäischen Verlagsanstalt angegliedert.

Dem Anspruch, neugierig zu machen, lesbare, spannende und unterhaltsame Literatur zu bieten, ist Rotbuch treu geblieben. Dem entspricht das neue Corporate Design – entwickelt von einer der weltweit renommiertesten Agenturen, MetaDesign in Berlin -, das in Anlehnung an die Farbgestaltung der EVA mit seinen Streifenelementen zugleich Einblicke in sonst nicht Sichtbares gewährt und die Brücke zum „roten Balken“ der Anfangsjahre schlägt. Das 21. Jahrhundert hat noch keine Richtung, Impulse sind nötig: Rotbuch will sie aussenden.

Einen Überblick über die ersten zwanzig Jahre Rotbuch finden Sie in den beiden
Anthologien:
– Bauer, Martin / Kallscheuer, Otto (Hrsg.): Sie bewegt sich doch. Ein Weltbilder Lesebuch.
1993, ISBN 3-88022-092-1
– Wantzen, Stephan / Dietze, Gabriele / Knott, Marie Louise (Hrsg.): Um die Ecke gehen. Ein
literarisches Lesebuch. 1993m ISBN 3-88022-093-X